Germanistik in der Schweiz. Online-Zeitschrift der SAGG 1/2002


Jugendsprache in der Deutschschweiz

Erforschung der Jugendsprache in der Deutschschweiz im Paradigma des Sprachenportfolios -
Plädoyer für eine angewandte Dialektologie

Erika Werlen (Bern)


 

1 Zur Einführung

"Jugendsprache in der Deutschschweiz" ist als Teil der "Dialektlandschaft" der Schweiz ein außerordentlich interessanter und vielfältig fruchtbarer Untersuchungsgegenstand. Als linguistisches Thema wurde Jugendsprache aber in der Schweiz bislang nur am Rande von Untersuchungen zur Jugendkultur aufgegriffen; eingehendere und linguistisch orientierte Forschungen fehlen in der Deutschschweiz.

Meine Ausführungen haben zum einen in ihrer Bezugnahme auf das in Planung befindliche Forschungsprojekt Jugendsprache im mehrsprachigen Kanton Bern programmatischen Charakter; zum andern argumentativ-appellierenden Charakter, wenn dafür plädiert wird, eine angewandte Dialektologie zu entwickeln.

Die Entwicklung einer angewandten Dialektologie scheint mir aus mindestens zwei Gründen unverzichtbar: Zum einen würde zur Erkenntniserweiterung der Linguistik insbesondere in ihren dialektologischen und soziolinguistischen Bereichen beigetragen; zum andern entstünde mit der Theorie- und Empirieentwicklung einer angewandten Dialektologie ein gesicherterer Rahmen für eine empirische Sprachendidaktik resp. eine Mehrsprachigkeitsdidaktik der Schweiz. Das Interesse der hier vorgestellten Konzeptions- und Projektarbeit ist daher ein doppeltes und sie ist zu verstehen als:

(a) Beitrag zur theoretischen und empirischen Erforschung der Deutschschweizer Sprachsituation durch die Untersuchung der Jugendsprache in der Deutschschweiz

(b) Konzipierung einer Deutschschweizer Sprachendidaktik (Mehrsprachigkeitsdidaktik)

Diese beiden Aspekte sind in gewisser Weise interdependent, und sie befruchten einander; zusammengeklammert würden sie durch die Entwicklung einer angewandten Dialektologie, die sich der Jugendsprache in einem Paradigma annimmt, das Jugendsprache als Kompetenz und als kommunikatives Handeln betrachtet. Eine angewandte Dialektologie soll aufbauend auf dem theoretisch-konzeptuellen, methodologischen und methodischem Rüstzeug der Dialektologien (sic) zur Beschreibung und Erklärung sprachlich-kommunikativer Phänomene in ihrer lebensweltlichen Bedeutung beitragen, anstehende Probleme erfassen und lösen helfen. Dabei ist Inter- und Transdisziplinarität ebenso gefragt wie methodologische Richtlinien und gegenstandsadäquate Empirie.

 

2 Jugendsprache in der Deutschschweiz als Untersuchungsgegenstand

"Jugendsprache in der Schweiz" ist ohne Zweifel ein genuiner dialektologischer Untersuchungsgegenstand. Der Erkenntisgewinn weist in zwei Richtungen: Erkenntnismöglichkeiten für die Dialektologie in der Schweiz und Erkenntnismöglichkeiten für die Dialektologie generell. Insofern Jugendsprache auch Teil des deutschschweizerischen Dialektspektrums ist, ist die Untersuchung von Jugendsprache eigentlich "Pflichtteil" dialektologischer Forschung. Für eine Untersuchung der Jugendsprache in der Deutschschweiz spricht - neben dem Erkenntnisgewinn "an sich" - vor allem die Möglichkeit, durch die Beschreibung von Strukturen und Funktionen jugendsprachlicher Varietäten anstehende Probleme und stagnierende Diskussionen der Erforschung der Deutschschweizer Sprachsituation pointierter voran zu bringen und Anstöße zur Theorieentwicklung zu geben. So ist es ja nach wie vor nicht zu Ende diskutiert, ob wir es in der Deutschschweiz mit einer wie auch immer gearteten Diglossie oder mit Bilingualismus zu tun haben. Auch der Status dialektaler Schriftlichkeit, Domänenverteilungen, Plurizentrik und sog. Mundartwellen sind weder theoretisch noch empirisch angemessen thematisiert. Jugendsprache kann hier aus einer neuen Perspektive alte Probleme erhellen, insofern die Untersuchung von Jugendsprache Fragen der Funktionalität des Dialekts, der Rolle der Standardsprache, der Faktoren des Sprachwandels und dergl. neu beleuchten lässt. Vor allem im Vergleich zur bundesdeutschen Jugendspracheforschung würden funktionale und strukturelle Aspekte der inneren Mehrsprachigkeit der Schweiz (sic!), der Sprachattitüden und der Mundartdominanz sowie der sozialen und kulturellen Funktionen der Dialekte fokussiert. Welche Rolle spielt denn eigentlich der Dialekt in der Schweiz? Ist die Definition "Muttersprache" zutreffend? Bedeutet die Bevorzugung der Mundart eine soziokultuelle Verarmung? Ist die deutschschweizerische Sprachsituation wirklich mit Diglossie zu beschreiben? Welche Art von Kompetenzfrage ist damit verbunden, dass Hochdeutsch als Fremdsprache bezeichnet wird und ist die Hochdeutschferne sozial diskriminierend? Ris hat ja bereits 1990 prägnant expliziert, "(....) dass eine strikte Zuordnung von Sprachvarietäten zu sozialen Schichten nicht in derselben Weise erfolgen konnte wie in Deutschland. (...) Sozial bedingte Sprachgegensätze waren durch diese generelle Aufwertung [ der "von Bern aus progagierte(n) Mundartbewegung"] der Mundart nicht einfach aus der Welt geschafft, sie verlagerten sich nur zunehmend in die Mundart hinein, was zu eigentlichen "Sprachbarrieren" - etwa zwischen Zürichberg - und Industriequartier-Zürichdeutsch führte" (Ris 1990:41).

Wenn wir die Untersuchung der Jugendsprache in der Deutschschweiz als eine Untersuchung der Sprach- und Kommunikationskompetenzen durchführten, könnten wir diesen Fragen näher kommen und auch aus einer unbefangeneren Perspektive als bisher nach angemessenen Modellen zur Beschreibung der Deutschschweizer Sprachsituation gelangen. Da würde der Faden von Ris weitergeführt:

Mit dem Abbau der schichtenspezifischen Markierung beim Gebrauch der Mundart überhaupt und der weitgehenden Neutralisierung ihrer früher stark wahrgenommenen Varietäten einerseits und der Durchlässigmachung der ursprünglich situativen Aufteilung zwischen Hochdeutsch und Mundart andererseits, ist es nicht mehr sinnvoll, das traditionelle Diglossiemodell zu verwenden. Es ist vielmehr davon auszugehen, dass der Deutschschweizer über jedes Thema in fast jeder Situation Mundart spricht. (...) Wenn wir diesen Tatbestand möglichst ohne sine ira et studio betrachten, müssen wir feststellen, dass die gesprochene Mundart nahezu all die Funktionen wahrnimmt, die anderswo einer gesprochenen Hochsprache zukommen, und das impliziert wiederum, dass das gesprochene Hochdeutsch in der Schweiz im internen Gebrauch nicht mehr als komplementäre Sprachform im Sinne des Diglossiemodells funktioniert, sondern als Zweitsprache im Sinne des Bilingualismusmodells, die man in gewissen Kommunikationssituationen mehr noch verwenden darf als verwenden muss.
(Ris 1990:43)

Nützlich wäre es m. E. zunächst beim Vergleich der Jugendsprache in der Deutschschweiz mit der in der Bundesrepublik anzusetzen und die Besonderheit der schweizerdeutschen Jugendsprache im Vergleich zur bundesdeutschen herauszuarbeiten. Dabei würden wir von einem "kollektiven Aspekt" bzw. von der Makroebene ausgehen und Jugendsprache als dynamischen Teil des schweizerischen Sprachengefüges, besonders im Hinblick auf die (klassischen) Fragen der Dialektologie, wie

- Sprachwandel: Wie wandeln sich Dialekte? Warum wandeln sie sich?
- Kommunikative Dialektologie: Funktionen des Dialekts
- Sozialdialektologie: Dialekt als Soziolekt?! Ethnisierung durch Dialekt?!

und im Hinblick auf neuere Fragestellungen, wie

- medialer Gebrauch und Kommerzialisierung von Dialekten, Soziolekten, Gruppensprachen
- Interdependenz von De-Standardisierung bzw. Normverstoß und Re-Standardisierung, Stilverbreitung, Stilübernahme
- Interferenzen "neuer" und "alter" dialektaler Formen und Funktionen
- Entwicklung dialektaler Schriftlichkeit
- Entwicklung dialektaler fiktionaler Texte

beschreiben.

 

3 Konzeptualisierung der Jugendsprache in der Deutschschweiz: Was "ist" Jugendsprache?

Fast die gesamte Literatur zur Jugendsprache ist sich darin einig, dass Jugendsprache typologisch schwer festzulegen ist (vgl. den programmatischen Aufsatz von Neuland 1987). Die augenblickliche Diskussion zu Typologiefragen versucht vor allem, der beobachtbaren Varianz sowie der Vielschichtigkeit des Phänomens Jugendsprache auf der Ebene des empirisch vorfindbaren Sprachgebrauchs Rechnung zu tragen. Konzeptuell sind zwei Fixpunkte auszumachen, die sich dann in unterschiedlichen Forschungsansätzen niederschlagen.

Der eine dominante Fixpunkt ist naturgemäß auf die SprecherInnen von Jugendsprache bezogen und baut die Definition von Jugendsprache auf "Alter" und "Generation" auf. Jugendsprache ist zwar eine altersspezifische Varietät, aber eben so wenig wie "Erwachsenensprache" als geschlossenes Systems oder homogene Varietät einer altersmäßig definierten gesellschaftlichen Gruppierung zu betrachten (vgl. die kurze Thematisierung des Problems bei Schlobinski/Kohl/Ludewigt 1993).

Einigkeit besteht natürlich auch darin, dass Jugendsprache als altersspezifisch bestimmte Varietät soziokulturell determiniert ist; "Alter" oder "Generation" sind ebenso wie "Sexus" nicht als biologische Kategorie relevant, sondern als soziokulturelle Kategorie wirksam. ("doing youth" analog zu "doing gender", vgl. Neuland 2001)

Der zweite Fixpunkt baut auf der Spezifik des Sprachlich-Kommunikativen auf, das Jugendliche an den Tag legen: Jugendsprache ist ein komplexes sprachliches Register (Schlobinski / Kohl/Ludewigt 1993:12), das sich durch spezifische Züge von anderen Registern oder Sprechstilen unterscheidet. Stil gilt dabei als Ausdrucksform von Handeln (vgl. Sandig 1976): Sprachstile Jugendlicher werden als Ausdrucksform jugendlicher Lebensstile mit der Funktion sozialer Distinktion (Neuland 1994, 2000, 2001) und als Mittel der sozialen Positionierung (Kallmeyer 2000) aufgefasst. Dieser Fixpunkt führt zu unterschiedlichen Beschreibungsansätzen, die vielfach auf die Lexik der Jugendsprache abheben und darin das Spezifische der Jugendsprache sehen (vgl. Diskussion bei Neuland 1998). Das Spezifische besteht jedoch in mehr als der "jugendsprachlichen" Lexik, in Wörtern wie etwa dem berühmten "affengeil", sondern in der spezifischen Art der Form-Funktions-Beziehung, in der spezifischen Art, wie ausgewählte Einheiten des Sprachsystems - der Lexik und der Grammatik - und ausgewählte Regularitäten - wie Syntax und Wortbildung - behandelt werden; hier hat sich das für unseren Ansatz sehr wichtige Konzept der Sprachbastelei - bricolage - durchgesetzt.

Dem Ansatz, Sprachvariation Jugendlicher als "Sprechweise von Jugendlichen" zu bestimmen, und dem Ansatz, wie auch immer ausgewählte Äußerungen von Jugendlichen zu beschreiben, möchten wir den Ansatz, Jugendsprache als Handlung und als Kompetenz, die im Paradigma des Sprachenportfolios zu beschreiben sind, hinzufügen und ihn zu einer Aufgabe einer zu entwickelnden angewandten Dialektologie und einer zu entwickelnden empirischen Sprachdidaktik erklären.

Was können Jugendliche, wenn sie "jugendsprachlich" kommunizieren?
Was bedeutet ihre "jugendsprachliche Kompetenz" für die Sprachsituation der Deutschschweiz?
Wie kann jugendsprachliche Kompetenz im Sprachenportfolio / im L1-Portfolios erfasst werden?

Das Sprachenportfolio ist einerseits eine Konzeption, deren Kern darin besteht, beim Beschreiben von Sprachkönnen mit Hilfe von Deskriptoren von Kompetenzen und nicht von Defiziten auszugehen, und die Selbst- und Fremdbeurteilung kombiniert. (Mit diesem Ansatz schließen wir uns auch den Bemühungen an, ein L1-Sprachenportfolio für die Deutschschweiz zu entwickeln; vgl. Eriksson 2001) Andererseits ist es eine Art Dossier, das Schülerinnen und Schüler bzw. Studierende bzw. KursteilnehmerInnen während der Ausbildung anlegen. "Das Europäische Sprachenportfolio ist eine strukturierte Sammlung von Dokumenten unterschiedlicher Art und von Beispielen persönlicher Arbeiten, die von den Lernenden zusammengestellt wird und die sie immer wieder ergänzen und aktualisieren, um ihre Mehrsprachigkeit, ihre Kompetenzen in verschiedenen Sprachen, ihr Sprachenlernen, ihre Sprachkontakte und ihre interkulturellen Erfahrungen für sich selbst und für andere transparent zu dokumentieren. Das europäische Sprachenportfolio orientiert sich an dem vom Europarat entwickelten europäischen Referenzrahmen für das Sprachenlernen Common European Framework (Conseil de l’Europe 1966) und ermöglicht damit Vergleichbarkeit (Trim 1997, Christ 1997, 1999)." (Schneider/North 2000:166)

Das Sprachenportfolio ist für Fremdsprachen angelegt, und es geht uns hier nicht darum, Niveaus und Deskriptoren einfach zu übertragen und unterschiedslos statt der fremdsprachlichen Kompetenz die muttersprachliche zu beschreiben. Es geht darum, diesen Ansatz zu übernehmen, um "jugendsprachliches Können" in seiner Breite zu erfassen und auch für den Muttersprachunterricht den Kompetenz-Ansatz einzusetzen. Komplementär und kontrastiv wären Varietäten und "Register" der Jugendlichen zu beschreiben.

In seiner Vorzeigefunktion und pädagogischen Funktion dient das Sprachenportfolio dazu, möglichst umfassend, informativ, transparent und glaubwürdig zu dokumentieren, über welche Sprachkenntnisse und über welche Erfahrungen jemand als Sprecher verschiedener Sprachen verfügt. Die Instrumente im Portfolio helfen den Lernenden, für bestimmte Zwecke eine Bilanz oder eine Zwischenbilanz zu ziehen, um detailliert und international vergleichbar über den gegenwärtigen Stand, den sie beim Erlernen einer oder mehrerer Fremdsprachen erreicht haben, Auskunft zu geben.

Entscheidend ist, dass Sprachkompetenzen differenziert erfasst und in Handlungsbezüge eingebettet werden und dass dies in einer Selbst- und in einer Fremdbeurteilung geschieht.

Als pädagogisches Instrument soll das Sprachenportfolio die Motivation der Lernenden stärken, ihre Kommunikationsfähigkeit zu erweitern, neue Sprachen hinzuzulernen und neue interkulturelle Erfahrungen zu machen." (vgl. Schneider/North 1999 und http://www.unifr.ch/ids/Portfolio)

Die Konzeption des Sprachenportfolios ist

- Ausdruck einer Zielvorstellung von Kommunikativer Kompetenz
- Ausdruck einer Konzeption der individuellen Mehrsprachigkeit
- Ausdruck einer Konzeption vom Sprachenlernen als autonomes und lebenslanges Lernen und für lebenslanges Lernen
- Ausdruck des Respekts vor individuellen Kompetenzen: "Kannbeschreibungen" / Beschreibungen dessen, was Lernende können
- eine Möglichkeit, das Konzept der ausbaufähigen funktionalen Mehrsprachigkeit theoretisch und empirisch weiterzuentwickeln

Es sind für die Fremdsprachen sechs Niveaus angesetzt, die jeweils die Basisfähigkeiten, wie Sprechen, Zuhören, Lesen, Schreiben, aber auch Sprachlernstrategien erfassen.

A

B

C

Elementare Sprachverwendung

Selbstständige Sprachverwendung

Kompetente Sprachverwendung

A 1

A 2

B 1

B 2

C 1

C 2

Breakthrough

Waystage

Threshold

Vantage

Effective Operational Proficiency

Mastery

So heißt es zum Beispiel auf dem Niveau C 2 bei "Mündlicher Interaktion allgemein": "Beherrscht idiomatische und umgangssprachliche Wendungen gut und ist sich der jeweiligen Konnotation bewusst. Kann ein großes Repertoire an Graduierungs- und Abtönungsmitteln weitgehend korrekt verwenden und damit feinere Bedeutungsnuancen deutlich machen." (Europäischer Referenzrahmen 2001: 79)

Die Forderung des Europarats ist Förderung der Mehrsprachigkeit und des Sprachenlernens. Das Europäische Sprachenportfolio soll

- dazu motivieren, Kompetenzen in mehreren Sprachen zu erwerben,
- die Lernenden ermutigen, ihre Sprachkenntnisse und kulturellle Erfahrungen - zu erweitern,
- lebenlanges Sprachenlernen fördern,
- den Wert von Mehrsprachigkeit und Multikulturalismus aufzeigen und so zur gegenseitigen Achtung und Verständigung beitragen. (vgl. Schneider/North 2000: 169)

 

4 Untersuchung der Jugendsprache als Grundpfeiler einer empirischen Sprachdidaktik

Unmittelbar einleuchtend ist - nicht erst seit PISA -, dass zielorientierte Sprach(en)didaktik empirische Grundlagen braucht und möglichst forschungsbasiert vermittelt werden muss. Die Grundfrage ist dabei, über welches muttersprachliche, ziel- und fremdsprachliche und fachsprachliche Potential verfügen Schülerinnen und Schüler der Sekundarstufen? Da dieses Potential in erster Linie dialektale Sprachlichkeit ist, ist hier ein zentrales Arbeitsfeld einer angewandten Dialektologie.

Gleichzeitig mit der Forderung, Jugendsprache zu untersuchen, für die Entwicklung einer angewandten Dialektologie zu plädieren ist nahe liegend. Denn gerade das Phänomen Deutschschweizer Jugendsprache macht deutlich, dass der Ausgangspunkt für die fachwissenschaftliche und fachdidaktische Auseinandersetzung mit der Sprache der Jugend Interpretationen der Art, der mündliche und schriftliche Sprachgebrauch jugendlicher SprecherInnen und SchreiberInnen sei von Defiziten geprägt und werde zunehmend schlechter und schlechter, zwar zu dem gut untersuchten Topos des Kulturzerfalls passt, aber für das Verständnis der Sache gar nichts bringt und auch gar nichts bringen kann. Schlimmer noch: die nicht linguistisch orientierte, sondern moralisierende und/oder sprachpflegerische Beschäftigung mit Jugendsprache zeitigt nicht wenige sachlich nicht gerechtfertigte Konsequenzen in Kontexten von Bildung und Ausbildung. In diesen gesellschaftspolitisch und natürlich auch wissenschaftlich wichtigem Bereich der schulischen und außerschulischen Lernprozesse von Jugendlichen muss sich die Dialektologie des deutschsprachigen Raumes engagieren.

Das Plädoyer für die Entwicklung einer angewandten Dialektologie mit der Programmatik der Erforschung der Jugendsprache in der Deutschschweiz zu verbinden, hängt vor allem mit dem sich momentan vollziehenden Wandel der sprachdidaktischen Paradigmen zusammen, die von einer Defizit-Orientierung hin zu einem Kompetenz-Orientierung gehen. Dieser Wandel wird aus drei Quellen gespeist: (1) Zunehmende sprachliche Heterogenität in Primar- und Sekundarstufen, (2) zunehmender Bedarf an literalen Fähigkeiten, (3) Orientierung an den z. Zt. entstehenden Bildungsstandards für Sprachen unter Bezugnahme auf den Europäischen Referenzrahmen für Sprachen und das Sprachenportfolio. für die Jugendsprachforschung Synergien aus der Mehrsprachigkeitsforschung und der Sprachkompetenzdiskussion zu ziehen.

 

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