Germanistik in der Schweiz

Online-Zeitschrift der SAGG, Heft 5/2008


Die Genese einer anthropologischen Historie im 18. Jahrhundert.
Dankesrede zur Verleihung des Zeno Karl Schindler-Preises für deutsche Literaturwissenschaft am 24. November 2007 in Bern

Lucas Marco Gisi (Basel)



Sehr geehrte Damen und Herren

Es ist mir eine große Ehre, Ihnen im Rahmen dieser Jahrestagung die Ergebnisse meiner Dissertation vorstellen zu dürfen. Im Folgenden möchte ich die Grundgedanken der soeben in Buchform erschienenen Arbeit (Gisi 2007) kurz nachzeichnen und anhand eines Textbeispiels erläutern. Zum Schluss werde ich Anschlussmöglichkeiten für weitere Forschungen vorstellen.


1 Ausgangspunkt, Fragestellung

Den Ausgangspunkt meiner Arbeit bildete das Diktum, dass sich Anthropologie und Geschichtsphilosophie im 18. Jahrhundert gegenseitig ausschließen. Ein Diktum, das in der Forschung lange Bestand hatte, so dass das Geschichtsdenken der Aufklärung zuweilen bis heute höchstens als Vorgeschichte des Historismus des 19. Jahrhunderts beurteilt wurde. Demgegenüber ging es mir darum zu zeigen, dass gerade die Verschränkung von Anthropologie und Kulturgeschichte bzw. Geschichtsphilosophie zu einem zentralen Anliegen der Aufklärung wird. Dabei habe ich ein doppeltes Ziel verfolgt: Zum einen habe ich nachzuzeichnen versucht, wie in den verschiedenen Wissensgebieten die 'Natur' des Menschen und die Geschichte der Menschheit systematisch wechselseitig aufeinander bezogen werden. Und zwar sowohl auf einer konzeptuell-theoretischen Ebene als auch auf der Ebene der 'praktischen Umsetzung' (das heißt etwa in Schriften zur Menschheitsgeschichte oder zur Psychologie). Zum anderen habe ich versucht, die Kontinuität in den Bemühungen um eine Verschränkung von Anthropologie und Geschichte deutlich zu machen, die sich zwischen den ersten Formulierungen dieser Problemstellung in der Frühaufklärung und den großangelegten Klärungsversuchen in der Spätaufklärung zeigt. Im Zentrum der Untersuchung stand die Verbindung von Konzepten der Einbildungskraft mit Konzepten der Mythologie, da in dieser Verbindung die Voraussetzungen und Konsequenzen einer Verschränkung von Anthropologie und Geschichte besonders klar hervortreten. Damit verband sich aber auch die Untersuchung einer Frage, die sich mir beim Studium der Quellen immer wieder gestellt hat. Nämlich die Frage, wieso spätestens seit Vico die poetischen Fähigkeiten frühgeschichtlicher und primitiver Völker – als deren Produkt die Mythologien galten – beinahe topisch auf deren – gegenüber dem zivilisierten Menschen – lebhaftere Phantasie zurückgeführt werden. Mit dieser Fragestellung ist schließlich ein weiteres Anliegen verbunden, nämlich, die äußerst aufschlussreiche 'Vorgeschichte' zweier zentraler Konzepte der Romantik – der Phantasie und der Mythologie – zu rekonstruieren.

In der Aufklärung ist das Bemühen allgegenwärtig, die Natur des Menschen aus seiner Geschichte und umgekehrt seine Geschichte aus seiner Natur zu erschließen, das heißt, synchrone und diachrone Betrachtung zu vereinen. Für diese intellektuelle Bemühung habe ich den Begriff der 'anthropologischen Historie' gesetzt (in Anlehnung und gleichzeitiger Abgrenzung zum Begriff der 'historischen Anthropologie').

Die Genese einer anthropologischen Historie beruht – so die These meiner Arbeit – wesentlich auf dem konjekturalen Denken der Aufklärung. Das heißt, die Verschränkung von Anthropologie und Kulturgeschichte bzw. Geschichtsphilosophie erfolgt auf der Basis von erkenntnisleitenden Mutmaßungen, den sogenannten Konjekturen. Dabei handelt es sich vornehmlich um Analogiebildungen zwischen Fakten aus – scheinbar – disparaten Wissensgebieten.

Die wichtigste Konjektur, die der anthropologischen Historie zugrunde liegt, ist die Annahme einer Analogie zwischen Ontogenese des Menschen und Phylogenese der Menschheit, d. h. einer Analogie zwischen der individuellen und der kulturellen 'Geschichte des menschlichen Verstandes' auf der Grundlage einer sensualistischen Psychologie. Die Rekonstruktion der diskursiven Ausgestaltung dieser Analogie von Lebens- und Weltaltern, wie die Denkfigur metaphorisch gefasst wird, also der Art und Weise, wie sich das Aufklärungsdenken an ihr 'abarbeitet', bildet das zentrale Anliegen meiner Arbeit. Damit verstehe ich meine Untersuchung bedingt auch als Beitrag zur Ausbildung des Evolutionsdenkens des 19. Jahrhunderts; bedingt, da die wissenschaftsgeschichtlichen Voraussetzungen jeweils verschieden sind.

Die Verschränkung von Anthropologie und Geschichte zu einer anthropologischen Historie im 18. Jahrhundert habe ich in drei Schritten nachzuvollziehen versucht: In einem ersten Schritt galt es, die Genese einer anthropologischen Historie aus den heterogenen Quellen der Ästhetik der Frühaufklärung, der Reflexion der Stellung des Menschen in Zeit und Raum und der Beschäftigung mit den religiösen Vorstellungen und Mythologien verschiedener Völker und Kulturen zu rekonstruieren. In einem zweiten Schritt habe ich die Konsolidierung der Prinzipien der anthropologischen Historie aufzuzeigen versucht am Beispiel der Prägung der kulturgeschichtlichen Theoriebildung durch das ethnographische Wissen sowie am Beispiel der wechselseitigen Bedingtheit von Anthropologie und Geschichtsphilosophie in der Spätaufklärung. In einem dritten Schritt habe ich mich schließlich der Relativierung und Erosion der anthropologischen Historie um 1800 gewidmet.

Die Genese einer anthropologischen Historie habe ich in der französischen Querelle des anciens et des modernes beginnen und mit den romantischen Programmen einer 'Neuen Mythologie' enden lassen – womit ich andeuten möchte, worin die germanistische Klammer dieser kulturwissenschaftlichen Arbeit besteht.


2 Quellen

Um die historische Stellung der Denkfigur einer Parallele von Onto- und Phylogenese ebenso wie deren Wandel im Verlauf des 18. Jahrhunderts nachzeichnen zu können, habe ich mich bei der Auswahl der Quellen um eine europäisch-komparatistische und zugleich wissenschaftsgeschichtlich-interdisziplinäre Perspektive bemüht. Um die Vielfalt und Vielschichtigkeit der Beschäftigung der Aufklärung mit anthropologischen und kulturgeschichtlichen Fragen aufzuzeigen, schien es mir wichtig und geradezu unumgänglich, auf einer möglichst breiten Materialbasis argumentieren zu können. Insbesondere die Berücksichtigung der Zeitschriften- und der Reiseliteratur hat sich dabei als äußerst aufschlussreich erwiesen.

Im Zentrum meines Interesses standen von Beginn an die ungeheure Menge an Reiseliteratur über außereuropäische Kulturen, die im 18. Jahrhundert publiziert wurde, sowie deren Verarbeitung innerhalb der Gelehrtendiskurse der Zeit. Gerade hier bildete die konzeptuelle Koppelung von Mythologie und Einbildungskraft einen äußerst beliebten und weitreichenden Erklärungsansatz. Die ethnographische Erfahrung erwies sich dabei gewissermaßen als Prüfstein für eine anthropologische Historie.


3 Gang der Arbeit

Lassen Sie mich nun mit ein paar Stichworten den Gang der Untersuchung abstecken. In einem ersten Schritt habe ich die Kombination eines Fortschrittsmodells mit der Annahme eines historischen Relativismus im Rahmen der Querelle des Anciens et des Modernes herausgearbeitet. Die Reaktivierung der Metapher einer Parallele zwischen Lebens- und Weltaltern durch den französischen Frühaufklärer Bernard de Fontenelle erlaubte es diesem, die Natur des Menschen und seine Geschichte in Relation zueinander zu setzen. Innerhalb des zwischen den Zürchern Johann Jakob Bodmer und Johann Jakob Breitinger und dem Leipziger Johann Christoph Gottsched geführten Literaturstreits zeichnet sich das Bestreben ab, Positionen der Modernes und der Anciens engzuführen. Damit werden Problemstellungen der französischen Debatte in den deutschen Sprachraum transponiert.

Der folgende Teil beschäftigt sich mit der für die Ausbildung des geschichtlichen Denkens des 18. Jahrhunderts entscheidenden Anordnung anthropologischer und kultureller Varietät nach den Parametern Zeit und Raum. Die Annahme entwicklungsgeschichtlicher Stufen ermöglicht es, eine Vergleichbarkeit zwischen primitiven und antiken bzw. frühgeschichtlichen Kulturen zu postulieren und dadurch wechselseitig die eine über die andere 'Zeit' zu erschließen. Die Klimatheorie, wie sie im 18. Jahrhundert (weiter‑)entwickelt wird, liefert der Kulturgeschichte einen Ansatz zur Erklärung historischer und kultureller Unterschiede. Die Übersetzbarkeit von zeitlicher Sukzession in räumliche Dispersion (und umgekehrt) bildet eine der zentralen Konjekturen, derer sich eine anthropologische Historie bedient.

Im nächsten Teil habe ich zu zeigen versucht, wie im Verlauf des 18. Jahrhunderts die Konzepte der Einbildungskraft und der Mythologie aufeinander bezogen werden, indem die Einbildungskraft psychologisiert und die Mythologie historisiert wird. Das heißt: Auf der einen Seite werden die verschiedenen Formen des Aberglaubens psychologisch über die Einbildungskraft erklärt. Auf der anderen Seite wird die Ausbildung von Mythologien dem 'mythischen Denken' einer bestimmten geschichtlichen Entwicklungsstufe zugeordnet. Durch Anwendung des Lebensalterschemas erscheint die Mythologie damit als Ausdruck der durch die Einbildungskraft geprägten Denk- und Ausdrucksweise der Kindheit.

Der ethnographischen Reiseliteratur widmet sich der nächste Teil. Die Reflexion über den Ursprung der Mythologie und die Funktionsweise der Einbildungskraft wird im Zeitalter der Aufklärung maßgeblich durch das Wissen über außereuropäische Kulturen beeinflusst und geprägt. Die Wechselwirkung zwischen ethnographischer Erfahrung und kulturgeschichtlicher bzw. anthropologischer Theorie habe ich exemplarisch anhand von Berichten über Kamtschatka, Grönland und Afrika, Amerika und Indien dargestellt.

In einem nächsten Schritt habe ich mich mit der konkreten Ausgestaltung der anthropologischen Historie beschäftigt. Anhand von rund zwei Duzend Texten habe ich zwei parallele Entwicklungen in der Spätaufklärung zu identifizieren versucht, die ich mit den Stichworten Naturalisierung der Geschichtsphilosophie und Kulturalisierung der Anthropologie bezeichnen möchte.

Im letzten Teil wird die in der Aufklärung formulierte Verschränkung von Einbildungskraft und Mythologie aufgegriffen. Aus der Perspektive des 18. Jahrhunderts erscheint die Formulierung des romantischen Programms einer 'Neuen Mythologie' als Universalisierung dieser Verschränkung von Einbildungskraft und Mythologie. Letztere erweist sich hingegen auf dem Gebiet der wissenschaftlichen Erforschung der Mythologie im frühen 19. Jahrhundert zunehmend als hinfällig und wird stattdessen im Spannungsfeld zwischen philologischer Erforschung und symbolistischer Deutung verhandelt.


4 Hauptthese: Die Genese einer anthropologischen Historie

In systematischer Hinsicht lässt sich die konjekturale Grundstruktur der historisch rekonstruierten anthropologischen Historie wie folgt schematisieren:

Ontogenese Phylogenese
Pädagogik Psychologie
Anthropologie
Kulturgeschichte
Religionsgeschichte
Ethnographie Historiographie
Erwachsenenalter Vernunft Philosophie
Monotheismus
"Zivilisierte" Völker Neuzeit
Jugend Einbildungskraft Mythologie "Barbarische" Völker Mittelalter
Klassische Antike
Kindheit Sinne Fetischismus "Wilde" Völker Antike Frühzeit

Konjekturale Grundstruktur einer anthropologischen Historie

Den Rahmen bildet die Parallelisierung von Onto- und Phylogenese, durch die eine synchrone Betrachtung des Menschen in eine diachrone Betrachtung der Menschheit übersetzt werden kann. Damit wird eine ganze Reihe von Wissensgebieten bzw. Disziplinen umfasst: auf der Seite der ontogenetischen Entwicklung des Menschen die Pädagogik, die Psychologie und die Anthropologie; auf der Seite der phylogenetischen Entwicklung der Menschheit die Kultur- und Religionsgeschichte, die Ethnographie und die Historiographie. Die einzelnen Wissensgebiete liefern Kategorien, anhand derer der 'ganze Mensch' in seiner anthropologischen, historischen und kulturellen Dimension erfasst werden kann. Die Pädagogik beschreibt die Entwicklung vom Kind zum Erwachsenen, die Psychologie die Ausbildung der Verstandesvermögen von der Sinnlichkeit zur Vernunft, die Religions- bzw. Kulturgeschichte die Ausbildung des Fetischismus, der Mythologie und des Monotheismus, die Ethnographie die Unterscheidung von "wilden", "barbarischen" und "zivilisierten Völkern", die Historiographie die geschichtliche Entwicklung aus der Frühzeit in die Gegenwart. Entscheidend ist, dass sich diese Entwicklungsstufen aufgrund der Annahme einer Analogie zwischen Onto- und Phylogenese parallel nebeneinander aufstellen lassen.

Das konjekturale Denken besteht nun darin, dass diese vertikal angeordneten Stufen in horizontaler Richtung zueinander in Beziehung gesetzt werden. Der Fetischismus primitiver Völker kann damit auf die Sinnlichkeit zurückgeführt und mit dem Kindheitsalter oder den antiken Frühkulturen identifiziert werden und so weiter. Im Zentrum des Schemas stehen Einbildungskraft und Mythologie. Sie bezeichnen die 'Scharnierstelle', durch die Anthropologie und Kulturgeschichte zu einer anthropologischen Historie verbunden werden.

Allerdings darf nicht vergessen werden, dass es sich hierbei um ein Schema handelt, das zwei wesentliche Aspekte der Untersuchung nicht wiedergeben kann. Erstens sind gerade die Verschiebungen innerhalb der Stufenfolgen, wie sie von einzelnen Gelehrten des 18. Jahrhunderts vorgenommen werden, höchst bedeutsam. Sie fordern zur Prüfung, Modifikation oder Bestätigung der Grundstruktur einer anthropologischen Historie heraus. Zwar ließ sich die qualitative Beurteilung der einzelnen Stufen nicht explizit ins Schema aufnehmen, aber in der geschichtlichen Entwicklung zeigen zweitens gerade Umwertungen innerhalb von Stufenfolgen eine enorme Wirkung. So haben beispielsweise die Abwertung der Vernunft oder eine Aufwertung primitiver Lebensformen innerhalb des Schemas Konsequenzen für die jeweils in horizontaler Ebene daneben liegenden Stufen.


5 Textbeispiel: Friedrich Gedike

Die konkrete Arbeit am Quellenmaterial möchte ich anhand eines kurzen Textes illustrieren, in dem sich wesentliche Elemente des eben skizzierten Modells wiederfinden. Friedrich Gedike (1754–1803), der vor allem als Reformpädagoge im Umfeld der Berliner Aufklärung hervortrat, liefert in seiner auf einen Akademievortrag zurückgehenden Schrift Ueber die mannigfaltigen Hypothesen zur Erklärung der Mythologie von 1791 sowohl einen Systematisierungsversuch der bisherigen Forschungen als auch ein Programm für eine künftige Beschäftigung mit der Mythologie. Dem Studium der Mythologie kommt nach Gedike eine große Wichtigkeit zu: nicht, weil sie zum Verständnis von Poesie und Kunst notwendig sei, sondern vielmehr, weil die Mythologie als "Chaos der heterogensten [...] Ideenruinen der Urwelt" Aufschluss über die "Geschichte des menschlichen Verstandes" und die "Kultur der Menschen" zu geben vermöge. Erscheine die griechische Mythologie zunächst als ein "Chaos der größten Absurditäten" und stünde damit im Widerspruch zum Ideal einer für die Moderne vorbildhaften Hochkultur, so dürfe nicht vergessen werden, dass " es eine Zeit gab, wo die Griechen um nichts klüger und besser waren als Grönländer und Kamtschadalen, deren Mythologie in mancher Rücksicht überaus viel Aehnlichkeit mit der griechischen hat" (Gedike 1791: 334–336).

Für die Deutung der Mythologie propagiert Gedike eine Synthese zwischen den beiden Traditionen einer allegorischen und einer historischen Auslegung und stellt in Form eines Acht-Punkte-Programms ein – wie er es nennt – "unsystematisches System über die Mythologie" vor. Fünf Punkte dieses Programms möchte ich kurz erläutern (cf. Gedike 1791: 362–370):

Erstens. Die Parallele 'Wilde' – Antike: "Die Geschichte aller Völker ohne Ausnahme fängt mit Mythologie an, d. i. die ältesten Begriffe und Begebenheiten aller Völker erscheinen in einer mythischen Einkleidung". Die Homogenität der Mythen und Volkssagen verschiedener unzivilisierter Völker resultiert somit aus der gleichartigen "Vorstellungsart aller rohen Völker". Folglich kann das Studium der "Denkungsart" und Sitten primitiver Völker in Amerika und Nordasien Aufschluss über die antike Mythologie geben.

Zweitens. Die Analogie zwischen onto- und phylogenetischer Entwicklung des Verstandes:

Eine wilde unkultivirte Nation ist im Ganzen gerade das, was im Einzelnen das Kind ist. Zwischen dem kindischen Alter des einzelnen Menschen und der Kindheitsperiode einer ganzen Nation ist eine auffallende Aehnlichkeit. Beobachtungen über den Gang der Entwickelung einer einzelnen Kinderseele gewähren zugleich Aufschlüsse über den Gang der Entwickelung eines ganzen noch unkultivirten Volks".

Die Beobachtung der Verstandesentwicklung des Kindes gibt nach Gedike Aufschluss über die Mythologie, da diese für das "kindische Alter" der Menschheit dasselbe war, was die Wiegenlieder und Ammenmärchen dem Kind sind.

Drittens. Die komplementäre Entwicklung des Verstandes: Die "Vorstellungsart eines noch rohen Volkes" ist geprägt durch "höchste Sinnlichkeit", lebhafte Phantasie und starke Leidenschaften: "Aus dieser Lebhaftigkeit der Fantasie lassen sich zum Theil die häufigen Göttererscheinungen und Götterstimmen, die in der Geschichte solcher unkultivirten Völker so häufig sind, erklären". Die Mythologie erscheint somit als Hervorbringung der unteren Seelenvermögen. Der Verstand entwickelt sich nach Gedike phylo- und ontogenetisch komplementär: Sind beim unzivilisierten Menschen (und beim Kind) die unteren Vermögen besser ausgebildet, so sind es beim zivilisierten Menschen (und beim Erwachsenen) die oberen.

Viertens. Poetische Sprache: Die Sprache eines "rohen Volks" entspreche der Sprache von Kindern, sei arm an Wörtern und drücke die wenigen intellektuellen Begriffe sinnlich aus (etwa Kausalitäten als Zeugung/Geburt)."So entstehen in der Sprache des Wilden ganz von selbst und ungesucht eine Menge Personifikationen und Allegorieen, wenn man anders diese unabsichtliche durch die Natur der rohen Sprache von selbst herbeigeführte Versinnlichung der intellektuellen Begriffe so nennen kann". Bei den 'Wilden' sei die Allegoriebildung also "Bedürfnis der Sprache". Folglich finden sich in der Mythologie keine "absichtliche[n] Allegorieen", diese seien vielmehr das natürliche Produkt einer poetischen Sprache.

Fünftens. Die Mythologie als Sprache der Phantasie: Die Ausbildung der Mythologie erfolgt nach einem organizistischen Modell. Denn:

Die Mythologie enthält die Keime der gesammten Geisteskultur der rohern Griechen. [...] Aber alle diese Keime waren eingehüllt in poetische Sprache, oder richtiger, sie wurden so dargestellt, wie alle Begriffe eines rohen Volks in dem Zustande seiner Kindheit vorgestellt und dargestellt werden, d. i. nicht sowohl durch und für den Verstand, sondern eigentlich durch und für die Fantasie".

Durch die Auffassung der Mythologie als 'Sprache der Phantasie' schließt Gedike (in zirkulärer Weise) den Kreis seiner Argumentation, die bei den ersten Forderungen nach einem indirekten Zugang zur Mythologie über die Bildersprache der 'Wilden' und Kinder ihren Ausgangspunkt nahm: Die Mythologie ist die 'Sprache der Phantasie', welche die Auffassungs-, Denk- und Ausdrucksweise der 'Wilden' und Kinder ist, deren Sprache bildlich, also 'Sprache der Phantasie' ist.

Gedikes Forderungskatalog ist ebenso überraschend wie unspektakulär. Zunächst umfasst er nicht viel mehr als eine Liste der prominentesten Ansätze zur Erklärung der Mythologie, wie sie im Verlauf des 18. Jahrhunderts Bernard de Fontenelle, Gianbattista Vico, Charles de Brosses, Johann Gottfried Herder, Christian Gottlob Heyne und andere formuliert hatten. Zugleich versöhnt er aber mit verblüffender Prägnanz die Annahme einer Komplementarität der unteren und oberen Seelenkräfte und ein organizistisches Modell der Kulturentwicklung in einem genetischen Stufenmodell. Gedike fokussiert am Ende des Aufklärungszeitalters nochmals deutlich auf die 'Scharnierstelle' dieser Analogien, die Koppelung von Einbildungskraft und Mythologie.


6 Ausblick: Forschungsdesiderate

Der knappe Abriss und das Textbeispiel mögen auch deutlich gemacht haben, dass verschiedene Aspekte, die sich aus der Problemstellung meiner Arbeit herleiten lassen, unberücksichtigt bleiben mussten. Lassen Sie mich daher zwei Forschungsdesiderate nennen, um wenigstens anzudeuten, in welche Richtung ich künftige Überlegungen zu dem Thema lenken möchte.

Erstens. Eine genauere Untersuchung der Bedeutung, die der Denkfigur einer Parallele zwischen individueller und (kultur‑)geschichtlicher Entwicklung für die Ausbildung des sogenannten Bildungs- bzw. Entwicklungsromans der Spätaufklärung zukommt. Diese Denkfigur findet sich etwa in den Romanen von Wieland oder Hölderlin und wird dort in durchaus eigenständiger Weise (literarisch) erprobt und weitergedacht.

Zweitens. Die festgestellte Erosion der Verschränkung von Anthropologie und Kulturgeschichte hin zu einer "Atomisierung" in Einzelwissenschaften um 1800 und die gleichzeitige Persistenz der Denkfigur einer Analogie von Onto- und Phylogenese in anderen bzw. neu entstehenden Wissensgebieten lässt es reizvoll erscheinen, die Stellung dieser Denkfigur im Evolutionsdenken des 19. und 20. Jahrhunderts weiterzuverfolgen. So taucht sie etwa auf im Bereich der Geschichtswissenschaft (Comte, Hegel), der Embryologie (Ernst Haeckel), der Ethnologie (Tyler, Morgan), der Pädagogik (Pestalozzi, Ziller) oder der Psychologie (Freud, Piaget). Zu fragen wäre aber nicht bloß nach der Peristenz dieser Denkfigur, sondern in dieser Perspektive einer 'longue durée' auch nach ihrem Funktionswandel unter den jeweiligen wissenschaftshistorischen Voraussetzungen.


7 Dank

Mit diesem Ausblick möchte ich diese kurze Präsentation meiner Arbeit abschließen und zum wichtigsten Teil überleiten: der Danksagung. Der Zeno Karl Schindler-Stiftung, namentlich Frau Jacqueline C. Schindler, sowie der Jury unter dem Vorsitz von Prof. Hans-Georg von Arburg und Prof. René Wetzel danke ich sehr herzlich für den Zuspruch des diesjährigen Preises. Mein Dank geht auch an die Betreuer meiner Dissertation, Prof. Wolfgang Proß und Prof. Eric Achermann, sowie an Prof. Eva Horn für ihre Empfehlung der Arbeit für den Preis.


Literatur

Gedike, Friedrich (1791): "Ueber die mannigfaltigen Hypothesen zur Erklärung der Mythologie. Eine Vorlesung in der Akademie der Wissenschaften". Berlinische Monatsschrift 17/1: 333–370.

Gisi, Lucas Marco (2007): Einbildungskraft und Mythologie. Die Verschränkung von Anthropologie und Geschichte im 18. Jahrhundert. Berlin/New York. (= Spectrum Literaturwissenschaft. Komparatistische Studien 11).


 Germanistik in der Schweiz. Online-Zeitschrift der SAGG 5/2008