Die Genese einer anthropologischen Historie im 18. Jahrhundert.
Dankesrede zur Verleihung des Zeno Karl Schindler-Preises für deutsche
Literaturwissenschaft am 24. November 2007 in Bern
Sehr geehrte Damen und Herren
Es ist mir eine große Ehre, Ihnen im Rahmen dieser Jahrestagung
die Ergebnisse meiner Dissertation vorstellen zu dürfen. Im Folgenden
möchte ich die Grundgedanken der soeben in Buchform erschienenen
Arbeit (Gisi 2007) kurz nachzeichnen und anhand eines Textbeispiels erläutern.
Zum Schluss werde ich Anschlussmöglichkeiten für weitere Forschungen
vorstellen.
1 Ausgangspunkt, Fragestellung
Den Ausgangspunkt meiner Arbeit bildete das Diktum, dass
sich Anthropologie und Geschichtsphilosophie im 18. Jahrhundert gegenseitig
ausschließen. Ein Diktum, das in der Forschung lange Bestand hatte, so dass das
Geschichtsdenken der Aufklärung zuweilen bis heute höchstens als Vorgeschichte
des Historismus des 19. Jahrhunderts beurteilt wurde. Demgegenüber ging es mir
darum zu zeigen, dass gerade die Verschränkung von Anthropologie und
Kulturgeschichte bzw. Geschichtsphilosophie zu einem zentralen Anliegen der
Aufklärung wird. Dabei habe ich ein doppeltes Ziel verfolgt: Zum einen habe ich
nachzuzeichnen versucht, wie in den verschiedenen Wissensgebieten die 'Natur'
des Menschen und die Geschichte der Menschheit systematisch wechselseitig
aufeinander bezogen werden. Und zwar sowohl auf einer konzeptuell-theoretischen
Ebene als auch auf der Ebene der 'praktischen Umsetzung' (das heißt etwa in
Schriften zur Menschheitsgeschichte oder zur Psychologie). Zum anderen habe ich
versucht, die Kontinuität in den Bemühungen um eine Verschränkung von
Anthropologie und Geschichte deutlich zu machen, die sich zwischen den ersten
Formulierungen dieser Problemstellung in der Frühaufklärung und den
großangelegten Klärungsversuchen in der Spätaufklärung zeigt. Im Zentrum der
Untersuchung stand die Verbindung von Konzepten der Einbildungskraft mit
Konzepten der Mythologie, da in dieser Verbindung die Voraussetzungen und
Konsequenzen einer Verschränkung von Anthropologie und Geschichte besonders
klar hervortreten. Damit verband sich aber auch die Untersuchung einer Frage,
die sich mir beim Studium der Quellen immer wieder gestellt hat. Nämlich die
Frage, wieso spätestens seit Vico die poetischen Fähigkeiten
frühgeschichtlicher und primitiver Völker – als deren Produkt die
Mythologien galten – beinahe topisch auf deren – gegenüber dem
zivilisierten Menschen – lebhaftere Phantasie zurückgeführt werden. Mit
dieser Fragestellung ist schließlich ein weiteres Anliegen verbunden, nämlich,
die äußerst aufschlussreiche 'Vorgeschichte' zweier zentraler Konzepte der
Romantik – der Phantasie und der Mythologie – zu rekonstruieren.
In der Aufklärung ist das Bemühen allgegenwärtig, die
Natur des Menschen aus seiner Geschichte und umgekehrt seine Geschichte aus
seiner Natur zu erschließen, das heißt, synchrone und diachrone Betrachtung zu
vereinen. Für diese intellektuelle Bemühung habe ich den Begriff der 'anthropologischen
Historie' gesetzt (in Anlehnung und gleichzeitiger Abgrenzung zum Begriff der 'historischen
Anthropologie').
Die Genese einer anthropologischen Historie beruht
– so die These meiner Arbeit – wesentlich auf dem konjekturalen
Denken der Aufklärung. Das heißt, die Verschränkung von Anthropologie und
Kulturgeschichte bzw. Geschichtsphilosophie erfolgt auf der Basis von
erkenntnisleitenden Mutmaßungen, den sogenannten Konjekturen. Dabei handelt es
sich vornehmlich um Analogiebildungen zwischen Fakten aus – scheinbar
– disparaten Wissensgebieten.
Die wichtigste Konjektur, die der anthropologischen
Historie zugrunde liegt, ist die Annahme einer Analogie zwischen Ontogenese des
Menschen und Phylogenese der Menschheit, d. h. einer Analogie zwischen der individuellen
und der kulturellen 'Geschichte des menschlichen Verstandes' auf der Grundlage
einer sensualistischen Psychologie. Die Rekonstruktion der diskursiven
Ausgestaltung dieser Analogie von Lebens- und Weltaltern, wie die Denkfigur
metaphorisch gefasst wird, also der Art und Weise, wie sich das
Aufklärungsdenken an ihr 'abarbeitet', bildet das zentrale Anliegen meiner
Arbeit. Damit verstehe ich meine Untersuchung bedingt auch als Beitrag zur
Ausbildung des Evolutionsdenkens des 19. Jahrhunderts; bedingt, da die
wissenschaftsgeschichtlichen Voraussetzungen jeweils verschieden sind.
Die Verschränkung von Anthropologie und Geschichte zu
einer anthropologischen Historie im 18. Jahrhundert habe ich in drei Schritten
nachzuvollziehen versucht: In einem ersten Schritt galt es, die Genese einer
anthropologischen Historie aus den heterogenen Quellen der Ästhetik der
Frühaufklärung, der Reflexion der Stellung des Menschen in Zeit und Raum und
der Beschäftigung mit den religiösen Vorstellungen und Mythologien verschiedener
Völker und Kulturen zu rekonstruieren. In einem zweiten Schritt habe ich die
Konsolidierung der Prinzipien der anthropologischen Historie aufzuzeigen
versucht am Beispiel der Prägung der kulturgeschichtlichen Theoriebildung durch
das ethnographische Wissen sowie am Beispiel der wechselseitigen Bedingtheit
von Anthropologie und Geschichtsphilosophie in der Spätaufklärung. In einem
dritten Schritt habe ich mich schließlich der Relativierung und Erosion der
anthropologischen Historie um 1800 gewidmet.
Die Genese einer anthropologischen Historie habe ich in
der französischen Querelle des anciens et des modernes beginnen und mit den romantischen Programmen einer 'Neuen
Mythologie' enden lassen – womit ich andeuten möchte, worin die
germanistische Klammer dieser kulturwissenschaftlichen Arbeit besteht.
2 Quellen
Um die historische Stellung der Denkfigur einer Parallele von Onto- und
Phylogenese ebenso wie deren Wandel im Verlauf des 18. Jahrhunderts nachzeichnen
zu können, habe ich mich bei der Auswahl der Quellen um eine europäisch-komparatistische
und zugleich wissenschaftsgeschichtlich-interdisziplinäre Perspektive
bemüht. Um die Vielfalt und Vielschichtigkeit der Beschäftigung der Aufklärung
mit anthropologischen und kulturgeschichtlichen Fragen aufzuzeigen, schien
es mir wichtig und geradezu unumgänglich, auf einer möglichst breiten
Materialbasis argumentieren zu können. Insbesondere die Berücksichtigung
der Zeitschriften- und der Reiseliteratur hat sich dabei als äußerst aufschlussreich
erwiesen.
Im Zentrum meines Interesses standen von Beginn an die
ungeheure Menge an Reiseliteratur über außereuropäische Kulturen, die im 18.
Jahrhundert publiziert wurde, sowie deren Verarbeitung innerhalb der
Gelehrtendiskurse der Zeit. Gerade hier bildete die konzeptuelle Koppelung von
Mythologie und Einbildungskraft einen äußerst beliebten und weitreichenden
Erklärungsansatz. Die ethnographische Erfahrung erwies sich dabei gewissermaßen
als Prüfstein für eine anthropologische Historie.
3 Gang der Arbeit
Lassen Sie mich nun mit ein paar Stichworten den Gang
der Untersuchung abstecken. In einem ersten Schritt habe ich die Kombination
eines Fortschrittsmodells mit der Annahme eines historischen Relativismus im
Rahmen der Querelle des Anciens et des Modernes herausgearbeitet. Die Reaktivierung der Metapher einer Parallele
zwischen Lebens- und Weltaltern durch den französischen Frühaufklärer Bernard
de Fontenelle erlaubte es diesem, die Natur des Menschen und seine Geschichte
in Relation zueinander zu setzen. Innerhalb des zwischen den Zürchern Johann
Jakob Bodmer und Johann Jakob Breitinger und dem Leipziger Johann Christoph Gottsched
geführten Literaturstreits zeichnet sich das Bestreben ab, Positionen der Modernes
und der Anciens engzuführen. Damit werden Problemstellungen der französischen Debatte
in den deutschen Sprachraum transponiert.
Der folgende Teil beschäftigt sich mit der für die
Ausbildung des geschichtlichen Denkens des 18. Jahrhunderts entscheidenden
Anordnung anthropologischer und kultureller Varietät nach den Parametern Zeit
und Raum. Die Annahme entwicklungsgeschichtlicher Stufen ermöglicht es, eine
Vergleichbarkeit zwischen primitiven und antiken bzw. frühgeschichtlichen
Kulturen zu postulieren und dadurch wechselseitig die eine über die andere
'Zeit' zu erschließen. Die Klimatheorie, wie sie im 18. Jahrhundert
(weiter‑)entwickelt wird, liefert der Kulturgeschichte einen Ansatz zur
Erklärung historischer und kultureller Unterschiede. Die Übersetzbarkeit von
zeitlicher Sukzession in räumliche Dispersion (und umgekehrt) bildet eine der
zentralen Konjekturen, derer sich eine anthropologische Historie bedient.
Im nächsten Teil habe ich zu zeigen versucht, wie im
Verlauf des 18. Jahrhunderts die Konzepte der Einbildungskraft und der
Mythologie aufeinander bezogen werden, indem die Einbildungskraft
psychologisiert und die Mythologie historisiert wird. Das heißt: Auf der einen
Seite werden die verschiedenen Formen des Aberglaubens psychologisch über die
Einbildungskraft erklärt. Auf der anderen Seite wird die Ausbildung von
Mythologien dem 'mythischen Denken' einer bestimmten geschichtlichen
Entwicklungsstufe zugeordnet. Durch Anwendung des Lebensalterschemas erscheint
die Mythologie damit als Ausdruck der durch die Einbildungskraft geprägten
Denk- und Ausdrucksweise der Kindheit.
Der ethnographischen Reiseliteratur widmet sich der
nächste Teil. Die Reflexion über den Ursprung der Mythologie und die
Funktionsweise der Einbildungskraft wird im Zeitalter der Aufklärung maßgeblich
durch das Wissen über außereuropäische Kulturen beeinflusst und geprägt. Die
Wechselwirkung zwischen ethnographischer Erfahrung und kulturgeschichtlicher
bzw. anthropologischer Theorie habe ich exemplarisch anhand von Berichten über
Kamtschatka, Grönland und Afrika, Amerika und Indien dargestellt.
In einem nächsten Schritt habe ich mich mit der
konkreten Ausgestaltung der anthropologischen Historie beschäftigt. Anhand von
rund zwei Duzend Texten habe ich zwei parallele Entwicklungen in der
Spätaufklärung zu identifizieren versucht, die ich mit den Stichworten
Naturalisierung der Geschichtsphilosophie und Kulturalisierung der
Anthropologie bezeichnen möchte.
Im letzten Teil wird die in der Aufklärung formulierte
Verschränkung von Einbildungskraft und Mythologie aufgegriffen. Aus der
Perspektive des 18. Jahrhunderts erscheint die Formulierung des romantischen
Programms einer 'Neuen Mythologie' als Universalisierung dieser Verschränkung
von Einbildungskraft und Mythologie. Letztere erweist sich hingegen auf dem
Gebiet der wissenschaftlichen Erforschung der Mythologie im frühen 19.
Jahrhundert zunehmend als hinfällig und wird stattdessen im Spannungsfeld
zwischen philologischer Erforschung und symbolistischer Deutung verhandelt.
4 Hauptthese: Die Genese einer anthropologischen Historie
In systematischer Hinsicht lässt sich die konjekturale Grundstruktur der historisch
rekonstruierten anthropologischen Historie wie folgt schematisieren:
Ontogenese
|
Phylogenese
|
Pädagogik
|
Psychologie
Anthropologie
|
Kulturgeschichte
Religionsgeschichte
|
Ethnographie
|
Historiographie
|
Erwachsenenalter
|
Vernunft
|
Philosophie
Monotheismus
|
"Zivilisierte" Völker
|
Neuzeit
|
Jugend
|
Einbildungskraft
|
Mythologie
|
"Barbarische" Völker
|
Mittelalter
Klassische Antike
|
Kindheit
|
Sinne
|
Fetischismus
|
"Wilde" Völker
|
Antike Frühzeit
|
Konjekturale Grundstruktur einer anthropologischen Historie
Den Rahmen bildet die Parallelisierung von Onto- und
Phylogenese, durch die eine synchrone Betrachtung des Menschen in eine
diachrone Betrachtung der Menschheit übersetzt werden kann. Damit wird eine
ganze Reihe von Wissensgebieten bzw. Disziplinen umfasst: auf der Seite der
ontogenetischen Entwicklung des Menschen die Pädagogik, die Psychologie und die
Anthropologie; auf der Seite der phylogenetischen Entwicklung der Menschheit
die Kultur- und Religionsgeschichte, die Ethnographie und die Historiographie.
Die einzelnen Wissensgebiete liefern Kategorien, anhand derer der 'ganze
Mensch' in seiner anthropologischen, historischen und kulturellen Dimension
erfasst werden kann. Die Pädagogik beschreibt die Entwicklung vom Kind zum
Erwachsenen, die Psychologie die Ausbildung der Verstandesvermögen von der
Sinnlichkeit zur Vernunft, die Religions- bzw. Kulturgeschichte die Ausbildung
des Fetischismus, der Mythologie und des Monotheismus, die Ethnographie die
Unterscheidung von "wilden", "barbarischen" und
"zivilisierten Völkern", die Historiographie die geschichtliche
Entwicklung aus der Frühzeit in die Gegenwart. Entscheidend ist, dass sich
diese Entwicklungsstufen aufgrund der Annahme einer Analogie zwischen Onto- und
Phylogenese parallel nebeneinander aufstellen lassen.
Das konjekturale Denken besteht nun darin, dass diese
vertikal angeordneten Stufen in horizontaler Richtung zueinander in Beziehung
gesetzt werden. Der Fetischismus primitiver Völker kann damit auf die
Sinnlichkeit zurückgeführt und mit dem Kindheitsalter oder den antiken
Frühkulturen identifiziert werden und so weiter. Im Zentrum des Schemas stehen
Einbildungskraft und Mythologie. Sie bezeichnen die 'Scharnierstelle', durch
die Anthropologie und Kulturgeschichte zu einer anthropologischen Historie
verbunden werden.
Allerdings darf nicht vergessen werden, dass es sich
hierbei um ein Schema handelt, das zwei wesentliche Aspekte der Untersuchung
nicht wiedergeben kann. Erstens sind gerade die Verschiebungen innerhalb der
Stufenfolgen, wie sie von einzelnen Gelehrten des 18. Jahrhunderts vorgenommen
werden, höchst bedeutsam. Sie fordern zur Prüfung, Modifikation oder
Bestätigung der Grundstruktur einer anthropologischen Historie heraus. Zwar
ließ sich die qualitative Beurteilung der einzelnen Stufen nicht explizit ins
Schema aufnehmen, aber in der geschichtlichen Entwicklung zeigen zweitens
gerade Umwertungen innerhalb von Stufenfolgen eine enorme Wirkung. So haben
beispielsweise die Abwertung der Vernunft oder eine Aufwertung primitiver
Lebensformen innerhalb des Schemas Konsequenzen für die jeweils in horizontaler
Ebene daneben liegenden Stufen.
5 Textbeispiel: Friedrich Gedike
Die konkrete Arbeit am Quellenmaterial möchte ich anhand eines
kurzen Textes illustrieren, in dem sich wesentliche Elemente des eben
skizzierten Modells wiederfinden. Friedrich Gedike (1754–1803),
der vor allem als Reformpädagoge im Umfeld der Berliner Aufklärung
hervortrat, liefert in seiner auf einen Akademievortrag zurückgehenden
Schrift Ueber die mannigfaltigen Hypothesen zur Erklärung der
Mythologie von 1791 sowohl einen Systematisierungsversuch der bisherigen
Forschungen als auch ein Programm für eine künftige Beschäftigung
mit der Mythologie. Dem Studium der Mythologie kommt nach Gedike eine
große Wichtigkeit zu: nicht, weil sie zum Verständnis von Poesie
und Kunst notwendig sei, sondern vielmehr, weil die Mythologie als "Chaos
der heterogensten [...] Ideenruinen der Urwelt" Aufschluss über
die "Geschichte des menschlichen Verstandes" und die "Kultur
der Menschen" zu geben vermöge. Erscheine die griechische Mythologie
zunächst als ein "Chaos der größten Absurditäten"
und stünde damit im Widerspruch zum Ideal einer für die Moderne
vorbildhaften Hochkultur, so dürfe nicht vergessen werden, dass "
es eine Zeit gab, wo die Griechen um nichts klüger und besser waren
als Grönländer und Kamtschadalen, deren Mythologie in mancher
Rücksicht überaus viel Aehnlichkeit mit der griechischen hat"
(Gedike 1791: 334–336).
Für die Deutung der Mythologie propagiert Gedike eine
Synthese zwischen den beiden Traditionen einer allegorischen und einer
historischen Auslegung und stellt in Form eines Acht-Punkte-Programms ein
– wie er es nennt – "unsystematisches System über die
Mythologie" vor. Fünf Punkte dieses Programms möchte ich kurz erläutern
(cf. Gedike 1791: 362–370):
Erstens. Die Parallele 'Wilde' – Antike: "Die Geschichte aller Völker ohne
Ausnahme fängt mit Mythologie an, d. i. die ältesten Begriffe und
Begebenheiten aller Völker erscheinen in einer mythischen Einkleidung".
Die Homogenität der Mythen und Volkssagen verschiedener unzivilisierter Völker
resultiert somit aus der gleichartigen "Vorstellungsart aller rohen
Völker". Folglich kann das Studium der "Denkungsart" und Sitten
primitiver Völker in Amerika und Nordasien Aufschluss über die antike
Mythologie geben.
Zweitens. Die Analogie zwischen onto- und phylogenetischer Entwicklung des Verstandes:
Eine wilde unkultivirte Nation ist im Ganzen
gerade das, was im Einzelnen das Kind ist. Zwischen dem kindischen Alter des
einzelnen Menschen und der Kindheitsperiode einer ganzen Nation ist eine
auffallende Aehnlichkeit. Beobachtungen über den Gang der Entwickelung einer
einzelnen Kinderseele gewähren zugleich Aufschlüsse über den Gang der Entwickelung
eines ganzen noch unkultivirten Volks".
Die Beobachtung der Verstandesentwicklung des Kindes
gibt nach Gedike Aufschluss über die Mythologie, da diese für das
"kindische Alter" der Menschheit dasselbe war, was die Wiegenlieder
und Ammenmärchen dem Kind sind.
Drittens. Die komplementäre Entwicklung des Verstandes: Die "Vorstellungsart eines
noch rohen Volkes" ist geprägt durch "höchste Sinnlichkeit",
lebhafte Phantasie und starke Leidenschaften: "Aus dieser Lebhaftigkeit
der Fantasie lassen sich zum Theil die häufigen Göttererscheinungen und
Götterstimmen, die in der Geschichte solcher unkultivirten Völker so häufig
sind, erklären". Die Mythologie erscheint somit als Hervorbringung der
unteren Seelenvermögen. Der Verstand entwickelt sich nach Gedike phylo- und
ontogenetisch komplementär: Sind beim unzivilisierten Menschen (und beim Kind)
die unteren Vermögen besser ausgebildet, so sind es beim zivilisierten Menschen
(und beim Erwachsenen) die oberen.
Viertens. Poetische Sprache: Die Sprache eines "rohen Volks" entspreche der
Sprache von Kindern, sei arm an Wörtern und drücke die wenigen intellektuellen
Begriffe sinnlich aus (etwa Kausalitäten als Zeugung/Geburt)."So
entstehen in der Sprache des Wilden ganz von selbst und ungesucht eine Menge
Personifikationen und Allegorieen, wenn man anders diese unabsichtliche durch
die Natur der rohen Sprache von selbst herbeigeführte Versinnlichung der
intellektuellen Begriffe so nennen kann". Bei den 'Wilden' sei die
Allegoriebildung also "Bedürfnis der Sprache". Folglich finden sich
in der Mythologie keine "absichtliche[n] Allegorieen", diese seien
vielmehr das natürliche Produkt einer poetischen Sprache.
Fünftens. Die Mythologie als Sprache der Phantasie: Die Ausbildung der Mythologie erfolgt
nach einem organizistischen Modell. Denn:
Die Mythologie enthält die Keime der gesammten
Geisteskultur der rohern Griechen. [...] Aber alle diese Keime waren eingehüllt
in poetische Sprache, oder richtiger, sie wurden so dargestellt, wie alle
Begriffe eines rohen Volks in dem Zustande seiner Kindheit vorgestellt und
dargestellt werden, d. i. nicht sowohl durch und für den Verstand, sondern
eigentlich durch und für die Fantasie".
Durch die Auffassung der Mythologie als 'Sprache der
Phantasie' schließt Gedike (in zirkulärer Weise) den Kreis seiner
Argumentation, die bei den ersten Forderungen nach einem indirekten Zugang zur
Mythologie über die Bildersprache der 'Wilden' und Kinder ihren Ausgangspunkt
nahm: Die Mythologie ist die 'Sprache der Phantasie', welche die Auffassungs-,
Denk- und Ausdrucksweise der 'Wilden' und Kinder ist, deren Sprache bildlich,
also 'Sprache der Phantasie' ist.
Gedikes Forderungskatalog ist ebenso überraschend wie
unspektakulär. Zunächst umfasst er nicht viel mehr als eine Liste der
prominentesten Ansätze zur Erklärung der Mythologie, wie sie im Verlauf des 18.
Jahrhunderts Bernard de Fontenelle, Gianbattista Vico, Charles de Brosses,
Johann Gottfried Herder, Christian Gottlob Heyne und andere formuliert hatten.
Zugleich versöhnt er aber mit verblüffender Prägnanz die Annahme einer
Komplementarität der unteren und oberen Seelenkräfte und ein organizistisches
Modell der Kulturentwicklung in einem genetischen Stufenmodell. Gedike
fokussiert am Ende des Aufklärungszeitalters nochmals deutlich auf die
'Scharnierstelle' dieser Analogien, die Koppelung von Einbildungskraft und
Mythologie.
6 Ausblick: Forschungsdesiderate
Der knappe Abriss und das Textbeispiel mögen auch
deutlich gemacht haben, dass verschiedene Aspekte, die sich aus der
Problemstellung meiner Arbeit herleiten lassen, unberücksichtigt bleiben
mussten. Lassen Sie mich daher zwei Forschungsdesiderate nennen, um wenigstens
anzudeuten, in welche Richtung ich künftige Überlegungen zu dem Thema lenken
möchte.
Erstens. Eine genauere Untersuchung der Bedeutung, die der Denkfigur einer Parallele
zwischen individueller und (kultur‑)geschichtlicher Entwicklung für die
Ausbildung des sogenannten Bildungs- bzw. Entwicklungsromans der Spätaufklärung
zukommt. Diese Denkfigur findet sich etwa in den Romanen von Wieland oder
Hölderlin und wird dort in durchaus eigenständiger Weise (literarisch) erprobt
und weitergedacht.
Zweitens. Die festgestellte Erosion der Verschränkung von Anthropologie und
Kulturgeschichte hin zu einer "Atomisierung" in Einzelwissenschaften
um 1800 und die gleichzeitige Persistenz der Denkfigur einer Analogie von Onto-
und Phylogenese in anderen bzw. neu entstehenden Wissensgebieten lässt es
reizvoll erscheinen, die Stellung dieser Denkfigur im Evolutionsdenken des 19.
und 20. Jahrhunderts weiterzuverfolgen. So taucht sie etwa auf im Bereich der
Geschichtswissenschaft (Comte, Hegel), der Embryologie (Ernst Haeckel), der
Ethnologie (Tyler, Morgan), der Pädagogik (Pestalozzi, Ziller) oder der
Psychologie (Freud, Piaget). Zu fragen wäre aber nicht bloß nach der Peristenz
dieser Denkfigur, sondern in dieser Perspektive einer 'longue durée' auch nach
ihrem Funktionswandel unter den jeweiligen wissenschaftshistorischen
Voraussetzungen.
7 Dank
Mit diesem Ausblick möchte ich diese kurze Präsentation
meiner Arbeit abschließen und zum wichtigsten Teil überleiten: der Danksagung.
Der Zeno Karl Schindler-Stiftung, namentlich Frau Jacqueline C. Schindler,
sowie der Jury unter dem Vorsitz von Prof. Hans-Georg von Arburg und Prof. René
Wetzel danke ich sehr herzlich für den Zuspruch des diesjährigen Preises. Mein
Dank geht auch an die Betreuer meiner Dissertation, Prof. Wolfgang Proß und
Prof. Eric Achermann, sowie an Prof. Eva Horn für ihre Empfehlung der Arbeit
für den Preis.
Literatur
Gedike, Friedrich (1791): "Ueber die mannigfaltigen
Hypothesen zur Erklärung der Mythologie. Eine Vorlesung in der Akademie der
Wissenschaften". Berlinische Monatsschrift 17/1: 333–370.
Gisi, Lucas Marco (2007): Einbildungskraft und
Mythologie. Die Verschränkung von Anthropologie und Geschichte im 18.
Jahrhundert. Berlin/New York. (= Spectrum
Literaturwissenschaft. Komparatistische Studien 11).
Germanistik in der Schweiz.
Online-Zeitschrift der SAGG 5/2008
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