Germanistik in der Schweiz

Online-Zeitschrift der SAGG, Heft 6/2009


Postume Verleihung des Zeno-Karl-Schindler-Preises 2008
an Walter Haug (1927–2008)*

Christian Kiening (Zürich)



Die laudatio eines Verstorbenen ist zugleich leichter und schwerer als die eines Lebenden. Leichter, weil die Aussagen fachlicher und persönlicher Art, die Gesten des Schmeichelns oder Ausweichens, die Untertöne sich nicht daran zu messen haben, wie der Betroffene selbst auf sie reagieren mag. Schwerer, weil damit alle Aussagen ein Gewicht, eine Endgültigkeit erhalten, die sich sonst im Gespräch mit dem Gegenüber revidieren ließen, weil dieses abwesende und zugleich anwesende Gegenüber nun erst recht im Imaginären als machtvolles Über-Ich erscheint und weil bei all dem die Rede leicht zur Totenklage zu werden droht.

Walter Haug selbst hat deshalb in einer ähnlichen Situation sich des Kunstgriffs bedient, das eigene Verhältnis zum Verstorbenen anhand von dessen Verhältnis zu seinen Vorläufern zur Sprache zu bringen. Vor 30 Jahren, im Dezember 1978, würdigte er den wenig zuvor verstorbenen Hugo Kuhn, indem er dessen Nachruf auf Hermann Schneider († 1961) anklingen ließ und diesen Bezug benutzte, das ganz Andere im beständig experimentierenden, unabschließbar kreisenden Werk seines eigenen Lehrers hervorzuheben. Ähnlich ist man heute, 30 Jahre später, versucht, auf Haugs damals geäußerte Worte zurückzugreifen – nun aber um festzustellen, dass anders als in der damaligen Konstellation zwischen Kuhn und Haug die verbindenden Linien die trennenden überwiegen.

Walter Haug war Hugo Kuhn, wie er in seiner Antrittsrede an der Heidelberger Akademie der Wissenschaften (1992) festhielt, "in einer Glückstunde" begegnet und durch ihn dazu gebracht worden, "das Steuer nocheinmal herumzuwerfen" – sprich: sich ganz der germanistischen Mediävistik zuzuwenden. Mit Kuhn ergab sich ein spontanes Einverständnis und bei ihm fand sich ein zeitgemäßes Wissenschaftsverständnis: komplexe Modellhaftigkeit verbunden mit geistiger Offenheit und Neugier, Wachheit für die Methoden historischer Rekonstruktion, Hingabe an den (selbst)kritischen Prozess wissenschaftlicher Erkenntnis. Bei vielen Anlässen, zuletzt noch bei der Feier zu seinem 80. Geburtstag im November 2007, war es Haug ein Anliegen, an das zu erinnern, was er seinem Münchner Mentor verdankte. Und tatsächlich scheint es, als hätte das 1978 auf Kuhn gemünzte Wort von der "Verantwortlichkeit des Forschers und Lehrers zwischen Erfahrung und Form, zwischen Zufall und Eschaton" auf ihn selbst ebenso zugetroffen wie das aus Kuhns Novalis-Aufsatz aufgegriffene Zitat: "Wir verstehen natürlich alles Fremde nur durch Selbstentfremdung – Selbstveränderung – Selbstbeobachtung."

Sosehr Haug im Blick auf Strukturen und Formen, anthropologische Universalien und literarhistorische Prozesse an Kuhn anschloss, sowenig schloss er an die elliptisch dichte Zusammendrängung und abbreviaturhafte Sprödigkeit von dessen Aufsätzen an. Meisterhafter Stilist, der er war, verstand er es, eine bestechende Klarheit des Gedankens mit einer schnörkel- und jargonlosen, lebhaften und anschaulichen Sprache zu verbinden. Egal, ob er über die früheste althochdeutsche, die hoch- und spätmittelalterliche oder die frühneuzeitliche Literatur schrieb, immer vermochte er prägnant und faszinierend die zentralen Deutungsprobleme ans Licht treten zu lassen. Für Heldensage und -epik, höfischen und nachhöfischen Roman, Kurzerzählung und Mystik setzte er Marksteine für die weitere Forschung – es ist hier nicht der Ort, dies im Einzelnen auszubreiten.

Ich will nur ein Werk herausgreifen, mit dem viele meiner Generation Walter Haug kennenlernten und das wohl auch als sein größter Wurf gelten muss: die Literaturtheorie im deutschen Mittelalter. Als ich Haug zuerst begegnete, 1986 bei einem Gastvortrag in München, war die Literaturtheorie gerade erschienen, und auch wenn der Vortrag über "Weisheit, Reichtum und Glück" handelte – die Fragen gingen immer wieder in Richtung des Buches. Landauf, landab wurde es in den Oberseminaren diskutiert. Es elektrisierte uns, nicht nur, weil es Luzidität und Komplexität in einmaliger Weise zu verbinden verstand, sondern weil es die Literatur einer ganzen Epoche anders zu sehen lehrte. Literarische Theoriebildung, das war bis dahin etwas gewesen, was man erst der frühen Neuzeit und dem Barock zugestanden hatte. Nun aber entstand das Bild einer Theorie, die noch nicht eigentlich um ihren Namen wusste, die erst nach adäquater Terminologie suchte, die mehr den Ausdruckswillen als die programmatische Präzision offenbarte, die aber doch außer in den Prologen und Epilogen der Romane auch in deren narrativen Strukturen sich manifestiert. Wo bis dahin nur Topoi versammelt schienen, entdeckte Haug Spannungen zwischen "Konventionalität und Reflexion", die "wie Wasser und Feuer zischend aufeinandertreffen oder bloß einen warmen Aufguß des Überkommenen abgeben" können. Er entdeckte Spannungen von größter kultureller Relevanz, wirkt doch in ihnen das Grundproblem christlicher Rede fort:

Die Dichtung bringt zum Ausdruck, daß in den Erscheinungen die Wahrheit einerseits präsent ist, daß das irdische Licht als Abglanz des göttlichen Lichtes gesehen werden darf, daß der Mensch also dem Göttlichen über das menschliche Wort begegnen kann. Andererseits offenbart der poetisch-hermeneutische Akt, indem er immer nur Bedeutungen bietet, die radikale Differenz zwischen der Schöpfung und dem Schöpfer. (1985: 24)

Diese Spannung sieht Haug im tiefsinnig-erzählimmanenten 'Korrelationskonzept' des klassisch-höfischen Romans auf eine neue Stufe gehoben. In den Werken Chrétiens, Hartmanns, Wolframs und Gottfrieds erkennt er prozessuale, strukturell-symbolisch entfaltete Sinnkonzeptionen neuer Radikalität, begleitet von einer Reflexion der Bedingungen des Erzählens, der Möglichkeiten und Ansprüche von Literatur und damit Verkörperung einer geradezu epochalen Wende.

Obschon Haug immer wieder auf diesen epochalen Moment zurückkam, blieb er doch nie bei ihm stehen. Beständige Fortschreibungen der eigenen Interpretationen und Modelle waren Ausdruck seiner nie erlahmenden wissenschaftlichen Neugier und seines unablässigen intellektuellen Unterwegsseins. So gibt es denn auch keine einfache Entwicklung innerhalb des Werk: Neue Schwerpunkte, die Übergänge zwischen Mittelalter und Neuzeit, der Bereich von Mystik, Theologie und geistlicher Literatur, stehen neben der fortwirkenden Faszination für den höfischen Roman, seine Fiktionalität und Literarizität. Nicht ein Weg führt von der Literaturtheorie (1985) und den Strukturen als Schlüssel zur Welt (1989) über die Brechungen auf dem Weg zur Individualität (1995) hin zur Wahrheit der Fiktion (2003). Vielmehr entspinnt sich ein unaufhörlich wachsendes Netzwerk an Pfaden, die immer wieder ihre eigenen Ausgangspunkte kreuzen und zugleich auf Spiralbahnen über sie hinauslenken. Angetrieben ist die Bewegung auf ihnen von der Erfahrung einer prinzipiellen Unfertigkeit, eines nicht erreichbaren Ziels, einer je neu ansetzenden Suche.

Und in diesem Punkt durchdringen sich literaturwissenschaftliches Tun und individuelle Existenz. In der erwähnten Heidelberger Akademierede entwirft Haug zwei Lebensgeschichten. Die erste erzählt einen Aufstiegsweg: von dem in einem kleinen Schweizerischen Städtchen aufwachsenden Jungen, der, protestantisch erzogen, Literatur und Philosophie entdeckt und als erster seines Städtchens die höhere Schule besucht, der sich dann sogar in die Ferne aufmacht, um ein so exotisches Fach wie Theaterwissenschaft zu studieren:

Er zog in jene Stadt, die im Ruf stand, die theaterfreudigste Europas zu sein, nach Wien. Daß er den Schock dieses Wechsels aus den Bergen in die Weltstadt nicht ohne Schaden überstand, ist kaum verwunderlich. Die bürgerliche Moral ging zu Bruch. So kam eines Tages der besorgte Vater angereist, redete ihm ins Gewissen und verpflanzte ihn nach München, wo der junge Mann sich auf seine angestammte Rechtschaffenheit und Strebsamkeit besann, das Universitätsstudium nun fleißig betrieb und ordentlich zum Abschluß brachte. Er gab hinterher zwar noch etwas seinem Hang zur Bühne nach, indem er für einige Zeit einen Dramaturgenposten am Theater der Bayerischen Landeshauptstadt bekleidete. Doch schließlich kehrte er zur Universität zurück, passierte die Habilitation, bekam auch bald einen germanistischen Lehrstuhl an einer kleineren Universität, um nach ein paar Jahren zu einer großen und berühmten überzuwechseln, nach Tübingen – einer bekannntermaßen protestantischen Stadt, was seine Eltern mit allem versöhnte. [...] Er wurde Mitherausgeber des angesehensten geisteswissenschaftlichen Periodikums der Zeit, erhielt einen großen staatlichen Preis und wurde schließlich Mitglied mehrerer gelehrter Akademien.

Doch auf diese Aufstiegsgeschichte folgt eine andere, die gebrochener, zerrissener, spannungsvoller erscheint, die mehr die Dynamiken der Übergänge und die "innere Entdeckungsreise in die Literatur des Mittelalters" betont – ohne doch am Ende in die eine Wahrheit zu münden:

Vielleicht ist das, was man nicht verstehen kann, wichtiger als das, was man von den Zusammenhängen her zu begreifen und zu erklären vermag, ich meine: das Unableitbare, das Spontane, das Unbedingte, das, was quer zur Geschichte steht.

Diese innere Haltung kehrt wieder in Haugs Aufmerksamkeit für die Prozessualität des arthurischen aventiure-Weges, aber auch in der Unwilligkeit, sich mit einmal gewonnenen Resultaten zufrieden zu geben. Einer der jüngeren Aufsätze plädiert explizit "Für eine Ästhetik des Widerspruchs" (1999) – und man wird dies nicht nur auf die Texte selbst, sondern auch auf die Interpretationen zu beziehen haben. Im Widerspruch und im Widersprüchlichen liegt das Bewegungsgesetz der Haugschen Produktivität und der archimedische Punkt für das literarhistorische Dilemma, an dem sein Werk sich abarbeitet: Wie Texte in ihren synchronen und diachronen Beziehungen verorten und gleichzeitig als unverrechenbare Singularitäten würdigen?

Eines der wesentlichen Foren für die Auseinandersetzung mit solchen Fragen war die Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte. Von ihr will ich ein wenig sprechen, weil sie mir in den letzten Jahren das Glück eines intensiven Austauschs mit Walter Haug bescherte. Er übernahm die Mitherausgeberschaft 1979/80, nach Kuhns Tod, und er war stolz auf diese Auszeichnung, die ihm zugleich Herausforderung war. Die Mitarbeit an der Zeitschrift wurde ihm zur Herzensangelegenheit, zur Aufgabe, eine Literaturwissenschaft zu profilieren, die keinen Richtungen und Richtungskämpfen verpflichtet war, sondern nur der unvoreingenommenen Auseinandersetzung. Die Zeitschrift kombinierte thematische Weite mit analytischer Strenge, Sachangemessenheit mit Reflexionshöhe und Verantwortlichkeit. Sie war für Haug der Ort, die geistes- und kulturgeschichtliche Relevanz von Literatur und zugleich die methodische Relevanz literaturwissenschaftlicher Verfahren je neu zum Vorschein zu bringen. Mit sicherem Blick für gut Gedachtes, interessant Beobachtetes und Perspektivenöffnendes hat er die DVjs für die jüngeren Generationen literaturwissenschaftlicher Mediävisten attraktiv gemacht und sich damit auch selbst einen Resonanzraum der eigenen Entwürfe verschafft. Dass dies einen Prozess dauernden Dazulernens erforderte, entsprach seinem Naturell. Bereitwillig gab er zu, selbst nicht immer jede abseits des Weges liegende Perle gleich erkannt zu haben. Als das Herausgebergremium sich über einen geistreichen, aber spielerisch in sich bleibenden Aufsatz uneinig war, erinnerte er an seine eigene, aus der frühen Zeit bei der DVjs stammende Verwunderung, ob man wirklich einen Beitrag zur Zigarre bei Thomas Mann bringen solle; er habe sich gefragt:

Gehört so etwas Abseitiges in die DVjs? Verfehlen wir mit solchen Unverbindlichkeiten nicht unsere eigentliche Aufgabe? Brinkmann hat mich – nicht gleich –, aber im Laufe der Zeit überzeugt, dass es bei uns auch Nischen geben sollte für kleine Entdeckungen, essayistische Köstlichkeiten und Hinter­gründig-Amüsantes. (10. Dez. 2006)

Den Austausch mit der Forschung und den Herausgeberkollegen verstand Haug als Möglichkeit, am Puls der Zeit und auf der Höhe der Diskussion zu sein und sich selbst immer wieder neu auf die Probe zu stellen – zum Beispiel anhand einer psychoanalytischen Literaturinterpretation, in der sich eigene (frühere) Faszinationen gespiegelt fanden:

Jeder Intellektuelle, der noch in der ersten Hälfte des 20. Jh.s geboren worden ist, hatte wohl seine Freudsche Denkphase. Meine war so massiv, dass ich als drittes Promotionsfach Psychologie studiert habe. Das ist lange her, und ich sehe inzwischen in der psychoanalytischen Literaturinterpretation einen fragwürdigen säkularen Ableger der allegorischen Hermeneutik. Vor diesem Hintergrund stehe [ich] einerseits [der] Analyse [...] nicht ohne Verständnis gegenüber, auf der andern Seite bin ich voller Reserven. (17. Dez. 2006)

Die Aufsätze, die Walter Haug selbst in der DVjs publizierte, gehören zu den wichtigsten in seinem Werk. Gleich der erste, "Die Symbolstruktur des höfischen Epos und ihre Auflösung bei Wolfram von Eschenbach" (1971: 668–705), war bahnbrechend und wurde zu einem der meist­zitierten in der germanistischen Mediävistik. Im Anschluss an Kuhns Erec-Aufsatz, aber weit über diesen hinaus­greifend, entfaltet Haug das Innovative der 'Doppelkreisstruktur' der Chrétienschen Romane und ihrer deutschsprachigen Adaptationen – nur um sogleich zu zeigen, wie Wolfram in seinem Parzival das neue Modell bereits wieder dekonstruiert:

An die Stelle des Thesenromans, der anhand seiner Symbolstruktur demonstriert und dessen Verständnis deshalb über das Erfassen dieser Struktur läuft, ist eine epische Darstellung getreten, die einen fortschreitenden Erfahrungsprozeß meint, mit dem man sich Schritt für Schritt identifizieren muß (1971: 705).

Der ebenfalls schnell kanonisch gewordene Aufsatz "Paradigmatische Poesie. Der spätere deutsche Artusroman auf dem Weg zu einer 'nachklassischen' Ästhetik" (1980) verfolgt diese Perspektive weiter und zeigt, wie wiederum aus dem Zurücktreten des prozessualen Moments einerseits eine Konzentration auf vermittelbare Lehre, andererseits eine Freisetzung sprachlicher Eigendynamik entstehen kann – Haug bringt, in für ihn charakteristischer Weise, diese Ermöglichung einer Ästhetik aus dem Geist der Negation mit einer "geistesgeschichtlichen Wende" in Verbindung, in der sich sogar schon "der moderne, sich der Problematik seines Tuns bewußte Typ des Dichters" ankündige (1980: 231). In "Parzival ohne Illusionen" (1990) revidierte er frühere (auch eigene) Lektüren des Parzival im Hinblick auf das Gnadenhafte, Prekäre, Nicht-Dauernde des Erlösungsweges. Ein neues, im 12. Jahrhundert intensiviertes Denken göttlich-menschlicher Differenz sei bei Wolfram fassbar:

in der Demontage der Wegmodelle, in der Idee des gemischten Menschentypus, im Sich-Durchringen zur Bereitschaft, sich die eigene Zwiespältigkeit einzugestehen und die Unmöglichkeit der Selbsterlösung zu akzeptieren. Aber all das sind Erfahrungen, die nur ein Einzelner für sich allein machen kann und muss. (1990: 216)

Erfahrungen des Einzelnen – sie sind es, die für Haug in besonderer Weise in der Literatur enthalten sind und durch sie vermittelt werden können, und sie sind es nicht zuletzt, die er durch aktuelle Tendenzen der Literaturwissenschaft gefährdet sah. Der programmatische Beitrag "Literaturwissenschaft als Kulturwissenschaft?" (1999a) reagierte auf Entwicklungen in Kulturanthropologie (Geertz) und New historicism (Greenblatt) und versuchte von ihnen her deutlich zu machen, wie die Literaturwissenschaft immer noch an dem Problem laboriere, die Individualität ihrer Gegenstände sowohl im Rahmen geschichtlicher Prozesse als auch im Kontext nicht-literarischer Systeme zu bewahren. Gerade die großen Erzähltexte der mittelalterlichen Tradition dienten dabei als Beispiel für die Unverrechenbarkeit des Literarischen, für dessen Möglichkeit, Spannungen, Widersprüche, Paradoxien zum Austrag zu bringen. Als von Graevenitz (1999) auf diese polarisierenden Zuspitzungen mit einem historisch nuancierenden Bild des Verhältnisses von Literatur- und Kulturwissenschaft antwortete, fühlte Haug sich missverstanden und als anachronistischer Vertreter literarischer Autonomie und werkimmanenter Interpretation abgestempelt. Er unterstrich in einer weiteren Entgegnung, wie sehr es auch ihm darum gehe, "die Fremdheit der eigenen kulturellen Vergangenheit" – und das hieß für ihn eben vor allem auch: die Widerständigkeit der Literatur – "zu ihrem Recht kommen zu lassen" (1999b: 121).

Die – nicht zuletzt fachpolitische – Intervention war Walter Haug wichtig. Er sprach von seinem 'Protestaufsatz' und kam in der Einleitung zur Wahrheit der Fiktion (2003) auf die historisch-hermeneutischen Dilemmata zurück. Auf dem Spiel stand für ihn sowohl die Komplexität des literarischen Textes wie die Dignität von Interpretationen, die jene Komplexitäten zu Tage fördern. Die Diskussion berührte einen Nerv seines eigenen Oeuvres, aber auch zum Beispiel die Stellung der DVjs gegenüber den neuen Tendenzen. Sosehr Haug der Literatur die einzigartige Fähigkeit zuschrieb, kulturelle Phänomene in ihrer Heterogenität zu bearbeiten, sosehr dachte er dabei an die 'großen Werke'. Serielle, pragmatische, lehrhafte, einsinnig-allegorisierende Texte – das waren für ihn jene Wälder der Überlieferung, auf die sich am besten von den Gipfeln aus blicken ließ. Er war deshalb, was die DVjs anging, skeptisch ebenso gegenüber Beiträgen, die mittelmäßige Texte mit theoretischem Ballast überfrachten, wie gegenüber solchen, die Literatur allein sprachanalytisch bestimmen oder das germanistische Kerngeschäft auf Poetik, Biographik und Lexikographie reduzieren wollten.

Man täte Walter Haug Unrecht, wollte man ihm einen goethezeitlich-modernen Literaturbegriff unterstellen. Doch untrüglich war sein Gespür für Texte, in denen inhaltlich, strukturell und formal Liminalitäten und Prozessualitäten, Ambiguitäten und Transgressionen eine konstitutive Rolle spielen. Literatur war für ihn keine Form der Problemlösung, sondern eine Form, die Unauflösbarkeit von Problemen sichtbar zu machen. Das konnte dann auch dem Blick auf das ästhetische Misslingen seinen Reiz geben. In dem Aufsatz "Der Teufelspakt vor Goethe oder wie der Umgang mit dem Bösen als felix culpa zu Beginn der Neuzeit in die Krise gerät" (2001) konzediert Haug, die frühneuzeitliche Faust-Historia müsse unter "klassischen ästhetischen Kategorien" als "stümperhafte Klitterung von Teufelspakt-Materialien und anderen Versatzstücken" erscheinen. Versuche man hingegen, die Heterogenitäten des Textes auf kulturelle Spannungsfelder einer Umbruchszeit zu beziehen, gewinne sie geradezu postmoderne Züge. Das Modell der felix culpa beiseitestellend und den Menschen aus der Opposition von Gut und Böse entlassend, erweise sie sich zumindest als radikaler als selbst die Versionen des 18. und 19. Jahrhunderts: so "schließt gerade das ästhetisch Unbefriedigende und konzeptuell Widersprüchliche die neue Problematik auf und macht die Lektüre zu einer erregenden Erfahrung" (2001: 208f.).

Die im Faust-Aufsatz anklingende Vorstellung der felix culpa gab auch das Stichwort, das Walter Haug sich selbst für das Kolloquium zu seinem 80. Geburtstag (23. Nov. 2007) wünschte: Positivierung von Negativität: Felix culpa und die Frucht des Scheiterns. In seinem eigenen Vortrag arbeitete er noch einmal prononciert heraus, welche Varianten "das erotische Aporie-Konzept des arthurischen Typus" in der kurzen Zeit zwischen dem altfranzösischen Tristan und Wolframs Titurel durchläuft. Damit schlägt er den Bogen zu frühen Aufsätzen und geht doch einmal wieder über sie hinaus. Betont ist nun das Aporetische der Konfigu­rationen von Liebe/Begehren und Tod, vor dem die Interpreten die Augen verschlössen, das Aporetische, das nicht in einer Positivierung des Negativen, einer felix culpa, aufgehe. Noch einmal blitzt damit die Idee auf, die Literatur selbst sei all unseren Kategorisierungs- und Systematisierungsversuchen überlegen, sei Experiment, dem seinerseits nur experimentell beizukommen sei, in immer neuen Anläufen, neuem Scheitern, neuem Glück.

Scheitern, Kontingenz, Positivierung von Negativität, felix culpa – das sind mehr alsnur einige Konstanten in Walter Haugs Werk. Es sind Kristallisationskerne einer Existenz, die sich zwar dem im Exultet und in der Ostervigil ausgesprochenen heilsgeschichtlichen Geheimnis der felix culpa verbunden wusste, daraus aber keine Gewissheiten ableitete. Es sind Schlüsselmomente eines Denkens, das sich immer seiner Endlichkeit, seiner Unzulänglichkeit, seiner Vorläufigkeit bewusst war und gerade daraus die überspringenden Funken immer wieder neuer Einsichten zu schlagen vermochte – "Über das Glück literaturwissenschaftlicher Verzweiflung" handelte schon der Aufsatz zum ahd. Muspilli aus dem Jahre 1977. Der existenzielle Blick fand in der Literatur, vor allem der erzählenden sowohl Trost wie Beunruhigung. In der Heidelberger Antrittsrede hieß es:

Zugegeben, diese Experimente [der Literatur] sind letztlich da, um zu versagen, aber im Versagen sind sie Zeichen für das, was nicht zu fassen ist. Das Erzählen mildert den Abgrund zwischen zwei Menschen. Es hat sein Gutes, gerade auch dadurch, daß es nicht ans Ziel kommt. Literaturwissenschaft treiben heißt also, sich darum bemühen, diesen Zwischenbereich lebendig zu erhalten, gerade weil er so fragwürdig ist, weil aber er allein das Leben zwischen den absoluten Forderungen und den leeren Mustern menschlich macht.

Der letzte Vortrag schließt mit einem von Haug ergänzten Nietzsche-Wort: "'Wir haben die Kunst' – und ich sage: insbesondere die Literatur – 'wir haben die Kunst, damit wir nicht an der Wahrheit verzweifeln.'"

Es ist eine schöne Idee, dass die Mittel des postum verliehenen Zeno Karl Schindler Preises jungen Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern zu gute kommen sollen, damit sie bei einem Auslandsaufenthalt die Kunst lernen oder verfeinern können, an der Wahrheit nicht zu verzweifeln.


Anmerkung

* Eine leicht abweichende gedruckte Version des Nachrufs erschien in: Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte 82 (2008): 151–157. zurück


Literatur

von Graevenitz, Gerhart (1999): "Literaturwissenschaft als Kulturwissenschaft. Eine Erwiderung". Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte (DVjs) 73: 94–116.

Haug, Walter (1985): Literaturtheorie im deutschen Mittelalter. Von den Anfängen bis zum Ende des 13. Jahrhunderts. Eine Einführung. Darmstadt.

id. (1971): "Die Symbolstruktur des höfischen Epos und ihre Auflösung bei Wolfram von Eschenbach". Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte (DVjs) 45: 668–705.

id. (1977): "Das 'Muspilli' oder über das Glück literaturwissenschaftlicher Verzweiflung". In: Mohr, Wolfgang/Haug, Walter: Zweimal 'Muspilli'. Tübingen: 24–78.

id. (1980): "Paradigmatische Poesie. Der spätere deutsche Artusroman auf dem Weg zu einer 'nachklassischen' Ästhetik". DVjs 54: 204–231.

id. (1989): Strukturen als Schlüssel zur Welt. Tübingen. (= Kleine Schriften zur Erzählliteratur des Mittelalters).

id. (1990): "Parzival ohne Illusionen". DVjs 64: 199–217.

id. (1995): Brechungen auf dem Weg zur Individualität. Tübingen. (= Kleine Schriften zur Erzählliteratur des Mittelalters).

id. (1999): "Für eine Ästhetik des Widerspruchs. Neue Überlegungen zur Poetologie des höfischen Romans". In: Palmer, Nigel F./Schiewer, Hans-Jochen (eds.): Mittelalterliche Literatur und Kunst im Spannungsfeld von Hof und Kloster. Ergebnisse der Berliner Tagung, 9.–11. Oktober 1997. Tübingen: 211–228.

id. (1999a): "Literaturwissenschaft als Kulturwissenschaft?". DVjs 73: 69–93.

id. (1999b): "Erwiderung auf die Erwiderung". DVjs 73: 116–121.

id. (2001): "Der Teufelspakt vor Goethe oder Wie der Umgang mit dem Bösen als felix culpa zu Beginn der Neuzeit in die Krise gerät". DVjs 75:185–215.

id. (2003): Wahrheit der Fiktion. Studien zur weltlichen und geistlichen Literatur des Mittelalters und der frühen Neuzeit. Tübingen.


 Germanistik in der Schweiz. Online-Zeitschrift der SAGG 6/2009